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Clean desk? Nicht bei mir! Ein Plädoyer für Individualität am Arbeitsplatz

Schon länger wundere ich mich über die Verklärung des leeren Schreibtischs. Wo auch immer ein Effizienzguru predigt oder ein modernes Büro bezogen wird, muss ein Schreibtisch vor allem eins sein: leer. Meistens wird diese Vorstellung auf Englisch formuliert, dann heißt sie Clean-desk-Policy. Das hat dann auch eine moralische Komponente, „clean“ heißt schließlich auch „sauber“ oder „rein“. Interessant ist zum Beispiel, wie viel Beachtung der voll belegte Schreibtisch von Donald Trump erregte. Über den Mann sage ich an dieser Stelle lieber nichts, aber sein Schreibtisch ist echt okay.

Clean desk ist in

Dafür gibt es diverse Begründungen. Die einen sagen, wer auf seinem Schreibtisch keine Ordnung halte, habe auch im Kopf keine. Leertischler seien einfach besser organisiert und arbeiteten deswegen effizienter und produktiver als Volltischler. Andere verweisen auf den Datenschutz (zum Beispiel die Karrierebibel), was in Büros mit Parteienverkehr mitunter tatsächlich eine Rolle spielt.

Viele Unternehmen gehen noch einen Schritt weiter: Sie stellen ihren Mitarbeitern gar keinen eigenen Schreibtisch mehr zur Verfügung, sondern führen eine Shared-desk-Policy ein: Die Mitarbeiter belegen einfach irgendeinen freien Schreibtisch, wenn sie im Büro arbeiten, und hinterlassen den dann natürlich wieder komplett abgeräumt, wenn sie gehen. Das spart Geld und gilt als besonders zeitgemäß. Zum Beispiel bei Siemens oder Microsoft.

Puh, habe ich ein Glück, dass ich im Home Office arbeite …

Mein Schreibtisch ist nie leer – und das ist gut so!

Nicht, dass ich für turmhohe Papierberge und ungezügeltes Chaos plädiere. Ich lege großen Wert auf Ordnung, weil ich es nicht leiden kann, wenn ich etwas suchen muss. Aber auf meinem Schreibtisch finden sich neben Telefon, Monitor und Tastatur eine Menge Dinge, die für einen überzeugten Leertischler ein Graus sein müssen.

Da ist das Stückchen Alabaster, das ich vor Jahren im ägyptischen Wüstensand in der Nähe der Knickpyramide gefunden habe. Heute dient es als Zettelbeschwerer (ja, ich arbeite auch mit Zetteln, manche klebe ich sogar an meinen Monitor!). Genau wie der Ammonit, den meine Mutter mir einmal aus Südfrankreich mitgebracht hat und die kleine Schreibmaschine, die ich im Zuge einer Recherche von einem Interviewpartner geschenkt bekam. Meine Teetasse steht auf einem kleinen Tablett, das ich auf einer London-Reise bei Liberty’s gekauft habe und auf meinem Lineal klemmt ein Wäscheklammer-Schmetterling, den mein Sohn einst im Kindergarten gebastelt hat.

Von wegen clean desk - mein Schreibtisch ist nie leer, und das ist gut so!

Ohne diese Dinge wäre mein Schreibtisch vielleicht ein modisches Clean desk, aber mir würden sie fehlen. Sie machen ihn nämlich zu meinem ganz persönlichen Arbeitsbereich, zu einem Platz, an den ich mich jeden Morgen wieder gerne setze. Weil er das widerspiegelt, was mir in meinem Leben wichtig ist und ich mich hier rundum wohlfühle. An diesem alles andere als leeren Schreibtisch bin ich höchst produktiv – so produktiv, wie ich es niemals sein könnte, wenn ich an irgendein steriles Desk in der geschäftigen Leere eines Großraumbüros andocken müsste.

Auch die Wissenschaft plädiert für persönliche Arbeitsplatzgestaltung

Übrigens gibt es wissenschaftliche Erkenntnisse, die meinen subjektiven Eindruck stützen. Zum Beispiel von Craig Knight und S. Alexander Haslam, die an der Universität Exeter eine Studie mit dem schönen Titel The Relative Merits of Lean, Enriched, and Empowered Offices: An Experimental Examination of the Impact of Workspace Management Strategies on Well-Being and Productivity verfasst haben. Nach ihren Erkenntnissen waren Arbeitnehmer, die ihre nächste Arbeitsumgebung selbst gestalten durften, um bis zu 32 Prozent produktiver als welche, die eine vorgegebene Arbeitsumgebung akzeptieren mussten.

Mein Fazit: Wer überzeugter Leertischler ist, darf das gerne sein. Er sollte seine persönliche Vorliebe für das Clean desk aber nicht zur Norm erheben, an die sich andere halten müssen, deren Wohlbefinden und Produktivität am Ende darunter leiden. Nach meiner Überzeugung brauchen gerade kreative Menschen eine Portion gepflegter Unordnung. Einfach gute Texte gedeihen am besten in einer inspirierenden Umgebung!

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8 Kommentare Schreibe einen Kommentar

  1. Danke für den schönen Text! Ein interessanter Kontrapunkt zum aufgedrückten Ordnungszwang. Wobei ich glaube, Clean-Desk-Policy muss nicht immer wortwörtlich verstanden werden: Wer seine Dokumente mit den Mitteln der Technik in seinen Rechner verlagert statt Ordner zu stapeln (Stichwort papierloses Büro) schafft sich Raum. Und hat dann auch Platz für eine persönliche Kaffeetasse, Bilder von den Liebsten – oder doch wieder den ein oder anderen Notizzettel 😉

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    • Danke für das schöne Feedback 🙂 In dem Sinne, den Sie ausführen, bin ich durchaus für „cleanere“, weil papierärmere Desks zu haben. Aber eben nicht als weltanschaulich bergündete Zwangsmaßnahme wider die persönliche Gestaltung der Arbeitsumgebung.

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  2. Das ist für mich ein absolut cleaner Desk. Der Beweis: Es ist genau zu erkennen, dass der Schreibtisch eine Holzarbeitsplatte hat ;-). Chaos sieht anders aus und hier hat alles seinen Platz. Vielen Dank fürs Mitnehmen ins Büro.
    Liebe Grüße
    Sabine

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  3. Danke für die interessanten Einsichten in dein Büro. Clean in deinem Sinne – nämlich aufgeräumt – brauche ich auch. Ich hasse es auch, wenn ich suchen muss. Was aber auch bedeutet, dass ich die Unterlagen zum Projekt, an dem ich gerade arbeite, um mich herum sortiere. Wenn das Gefühl habe, die Papierstapel werden zu groß wird, starte ich eine Aufräumaktion. Meist ist das in ein paar Minuten erledigt, die Stapel sind bei mir also objektiv gesehen nie besonders groß. Dann sieht mein Schreibtisch tatsächlich sehr clean aus. Bis zum nächsten Projekt.
    Letztlich muss jeder seinen Weg finden. Allerdings finde ich es in Unternehmen wichtig, ein Mindestmaß an Ordnung einzuhalten. Sonst wird es beispielsweise dann schwierig, wenn ein Kollege mal krank wird und alle Unterlagen im Papiertsunami verschwunden sind.
    Gruß Cordula

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    • Das stimmt natürlich: Ein Mindestmaß an Ordnung muss sein. Aber es sollte eben auch ein Mindestmaß an Individualität drin sein und keine von oben verordnete Sterilität – danke für den Kommentar!

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  4. Eins ist klar. Ein Volltischler wird niemals ein Leertischler. Das ist so wenig erfolgreich wie Karl Lagerfeld zu überzeugen, dass man mit dem Tragen von Jogginghosen eben nicht die Kontrolle über sein Leben verliert. Abgesehen davon ist Herr Lagerfeld garantiert ein Volltischler.

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    • Ja, das stimmt vermutlich: Ob man Voll- oder Leertischler ist, ist auch eine Frage der Persönlichkeit. Ich bin jedenfalls recht glücklich mit meinem alles andere als leeren Schreibtisch …

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